Advanced Games Physics
8. Kapitel

Anwendungsbeispiele für rotatorische Systeme

Physisches Pendel versus mathe­matisches Pendel

Eines der klassischen Anwendungsbeispiele für rotatorische Systeme ist das Pendel. Im Gegensatz zum mathematischen Pendel ist die Pendelmasse beim physischen (oder physikalischen) Pendel nicht in einem Punkt als Punktmasse konzentriert, sondern sie verteilt sich über den gesamten Pendelkörper ().
Analog zu seien die Masse m, das Trägheitsmoment J sowie der Schwerpunkt S des Körpers bekannt. Der Drehpunkt D befinde sich im Abstand R vom Schwerpunkt des Körpers.
Gesucht ist die Bewegungsgleichung für dieses Pendel. Zur Aufstellung der Differentialgleichung gehen wir jetzt vom Gleichgewicht der Drehmomente aus:
()
Formel 1

Dabei ist das durch die Gewichtskraft G hervorgerufene Drehmoment MG nicht direkt wirksam, sondern nur die Komponente, die senkrecht zum Hebelarm R, also die Tangetialkomponente. Während das durch die Trägheit des Körpers hervorgerufene Drehmoment MT durch sein Trägheitsmoment J bestimmt wird (siehe dazu auch ). So folgt aus :
()
Formel 1

Umstellen in die Normalform der Differentialgleichung:
()
Formel 1
Zum physischen Pendel

Abb. Zum physischen Pendel


Das Beispielprogramm zeigt einen dünnen Stab der Länge l, der im Abstand R vom Schwerpunkt drehbar gelagert ist. Die Pendel­bewegung wird durch Luft­reibung abgebremst. Rechts unten werden Schwing­dauern angezeigt. Im Vergleich zur Dauer des physischen Pendels (unten) wird die Pendeldauer eines mathe­matischen Pendels angezeigt, dessen Pendel­länge genau gleich dem Abstand l/2 ± R ist.
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Die Implementierung des physischen Pendels ist unproblematisch. Im neben­steheden Beispiel­programm wurde der dünne Stab, dessen Trägheitsmoment durch gegeben ist, als pendelnder Körper gewählt. Der Drehpunkt ist um den Abstand R vom Schwerpunkt versetzt und kann mittels Schieberegler verändert werden. Nach dem Satz von STEINER () verändert sich das Trägheitsmoment J mit dem Abstand R. So kann auf diese Weise die Pendeldauer beeinflusst werden.

Ergebnisdiskussion: Mit der Veränderung des Abstandes R wird aber auch der Hebelarm für das Gewichtsmoment MG verändert, was dann zu anderen Momenten führt. Der Vergleich der beiden Schwingungsdauern zeigt es: das physische Pendel verhält sich anders als das mathematische Pendel. Warum ist das so? Vergleichen wir die Differentialgleichungen (ohne Reibungseinfluss) beider Pendel, d.h. und miteinander. Hier die DGl. des reibungsfreien mathematischen Pendels. Aus
()
Formel

folgt
Formel

stellen wir jetzt das Vergleichsergebnis beider DGln. nach der Pendellänge l um, erhalten wir:
()
Formel

In wurde die so erhaltene Pendellänge mit l' bezeichnet, um deutlich zu machen, dass diese eine Vergleichsgöße ist. Sie wird reduzierte Pendellänge genannt und gibt an, welche Pendellänge ein mathematisches Pendel gleicher Schwingungsdauer haben würde.

Für den Fall des dünnen Stabes ergäbe sich die folgende reduzierte Pendellänge:
()
Formel

und damit verbunden die Periodendauer des physischen Pendels:
()
Formel

Reduzierte Pendellänge in Abhängigkeit vom Drehpunkt

Abb. Reduzierte Pendellänge in Abhängigkeit vom Drehpunkt
Die Grafik in und auch das Experiment zeigen, welchen Einfluss der Abstand R vom Schwerpunkt hat. Sind Dreh- und Schwerpunkt identisch (R = 0), müsste das Ersatzpendel unendlich lang sein. Es käme aber auch gar keine Drehung zustande, weil kein gewichtsbedingtes Drehmoment wirken kann. Die reduzierte Pendellänge hat ein Minimum bei R = 0,289·l (das entspricht dem Kehrwert aus der Quadratwurzel von 12) und steigt danach wieder an. Wird R > 0,5·l kehren sich die Verhältnisse wieder um, weil der Drehpunkt auf die andere Seite des Pendels wandert.

Das Fadenpendel

Anders als beim mathematischen Pendel ist die Verbindung zwischen Drehpunkt und pendelnder Masse beim Fadenpendel nicht starr. Bei kleinen Ausschlägen werden kaum Unterschiede zwischen den beiden Pandeltypen zu bemerken sein. Wenn aber der Pendelwinkel größer als 90° wird, kommt es auf die Wirkung der Zentrifugalkraft an, ob die Masse den Faden gespannt hält und weiterhin auf einer Kreisbahn verbleibt oder, andernfalls, infolge der Gravitation die Kreisbahn verlässt und abstürzt, bis der Faden wieder gespannt wird und die Pendelbewegung erneut einsetzt.

Das in gezeigte Fadenpendel stimmt bis auf den Bezug des Winkels φ mit der in gezeigten Anordnung des mathematischen Pendels überein. Deshalb überspringen wir die Aufstellung der Differentialgleichung und schreiben hier sofort das modifizierte Resultat für die Pendelbewegung:
()
Formel

Das Fadenpendel

Abb. Das Fadenpendel
Neu ist, dass die Pendellänge l nur dann gilt, wenn die Zentrifugal­kraft Fz
()
Formel

größer als die Radialkraft FR, hervorgerufen durch die Gravitation,
()
Formel

ist.
Wobei aber nur der Teil der Gravitationskraft wirkt, der in Richtung des Drehpunktes weist. Gewinnt diese Kraftkomponente die Oberhand, kann der Faden nicht weiter gespannt bleiben, die Masse verlässt die Kreisbahn und geht in die Bewegung des schrägen Wurfs über.
Im Augenblick des Verlassens der Kreisbahn gelten nun die Differentialgleichungen des schrägen Wurfs mit den Anfangsbedingungen für die Geschwindigkeiten
()
Formel

wobei die Ortskoordinaten im Augenblick des Verlassens der Kreisbahn
()
Formel

direkt aus der Pendelbewegung übernommen werden können.

Nachdem die Masse im schrägen Wurf nach unten gefallen ist, kommt der Moment, da die Entfernung der Masse vom Drehpunkt die Fadenlänge l erreicht. Damit endet diese Phase und die Pendelbewegung wird fortgesetzt. Nun müssen die Bewegungs­parameter des schrägen Wurfs auf die Anfangs­werte der erneuten Pendel­bewegung umgerechnet werden. Dazu wird zunächst der aktuelle Winkel φ berechnet, mit dessen Hilfe die Tangentialgeschwindigkeit v und damit die Winkelgeschwindigkeit ω bestimmt wird:
()
Formel

Somit stehen jetzt die Anfangswerte für die Pendel­bewegung zur Verfügung. Die Ortskoor­dinaten können wieder von den aktuellen Ortskoor­dinaten des schrägen Wurfs übernommen werden.

Zur Implementation ist zu bemerken, dass die Darstellung eines nicht gespannten Fadens (konstanter Länge) problematisch ist. Deshalb habe ich mich entschlossen, die Anordnung in eine Röhre, in der sich eine Kugel frei bewegen kann, zu ändern. Physikalisch bleibt diese Änderung völlig ohne Konsequenzen!
Mit dem horizontal eingezeichneten Geschwindig­keits­vektor kannst Du vor dem Start der Animation den Betrag und die Richtung (rechts/links) der Start­geschwindig­keit einstellen.
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Ergebnisdiskussion: Bei geringen Anfangsgeschwindigkeiten, wenn die Kugel die untere Hälfte der Röhre nicht verlässt, verhält sich die Anordnung wie ein mathematisches Pendel. Mit sehr großer Geschwindigkeit umkreist die Kugel die Innenseite der Röhre vollständig. Infolge der Reibung (Rollreibung oder Strömungs­reibung) verlangsamt sich die Bewegung der Kugel. Solange die Winkel­geschwindigkeit groß genug ist, verbleibt die Kugel auf ihrer Kreisbahn um den Drehpunkt. Befindet sich die Kugel in der oberen Hälfte der Röhre, kann sie sich aber bei geringer werdender Geschwindigkeit von der Innenseite der Röhre lösen und nach unten fallen. Erreicht sie dann in der unteren Hälfte wieder die Röhrenwandung, so wird sie wieder auf die Kreisbahn gezwungen und pendelt dort aus.