Advanced Games Physics
5. Kapitel

Slip-Stick: Haftreibung in Feder-Masse-Systemen

Der als slip-stick bekannte Effekt ist sehr weit verbreitet. Oft ist sein Wirken hörbar: unangenehm als kreischende Bremsen bei der Eisenbahn oder angenehm als Geigenton. Slip-stick bedeutet gleiten und stecken bleiben. Damit wird das Verhalten in Feder-Masse-Systemen beschrieben, das auftritt, wenn die Masse durch Haft- und Gleitreibung gebremst wird.

zeigt ein solches System. Im Unterschied zu allen bisher behandelten Anordnungen wird die Reibkraft FR nicht durch eine zur Geschwindigkeit proportionale Größe dargestellt, sondern durch die von der Geschwindigkeit unabhängige Gleit- bzw. Haftreibung.
Gleit- bzw. Haftreibung wird im Kapitel "Bewegung unter Reibungseinfluss" ausführlich behandelt. Danach ist die Reibkraft stets der Bewegung des Objektes entgegengerichtet. Ihr Größe ergibt sich aus dem Produkt aus der Normalkraft FN (entspricht dem Gewicht des Körpers in ) und dem Reibungskoeffizienten μG (Gleitreibung) bzw. μH (Haftrreibung).
Welche der beiden Reibungsarten wirksam ist, hängt von der Geschwindigkeit des Körpers ab. Ist der Körper in Ruhe, muss zunächst die Haftreibung überwunden werden. Bewegt sich der Körper hingegen, ist die Gleitreibung wirksam.
Feder-Masse-System mit Gleit- und Haftreibung

Abb. Feder-Masse-System mit Gleit- und Haftreibung

Wie zeigt, wird die Feder-Masse-Anordung durch eine bestimmte Zugkraft F nach rechts gezogen. Dabei greift die Zugkraft am rechten Federende (xZ) an. Die Masse m ist am linken Federende (x) befestigt.

Anhand von wollen wir den prinzipiellen Bewegungsablauf der gezogenen Masse m studieren. Wegen des Eigengewichtes m·g und, weil die Masse zunächst in Ruhe ist, wirkt die Haftreibung und verhindert eine Bewegung der Masse (stick). Bis die Federspannung, die sich infolge des permanent wachsenden Zuges an xZ aufbaut, die Haftreibungskraft übersteigt. Damit ist die stick-Phase beendet und die Masse beginnt sich in Richtung der Zugkraft zu bewegen (slip-Phase). Jetzt wirkt die Gleitreibung, die ja kleiner als die Haftreibung ist. Dadurch wird die Masse wegen der aufgebauten Federkraft beschleunigt, was dazu führt, dass die Masse über die Position der Ruhefederlänge hinaus gleitet ( → Schwingung!). Damit arbeitet die nun gestauchte Feder gegen die Massebewegung und die Geschwindigkeit vx der Masse sinkt wieder bis zum Stillstand. Damit ist die slip-Phase beendet und eine neue stick-Phase bricht an. Da die Zugbewegung fortgesetzt wird, baut sich wieder eine Federspannung auf, bis ... na ja, und so weiter.

Wegen des stetigen Wechsels zwischen slip und stick folgt die Masse der Zugbewegung periodisch schwingend. So erklären sich auch die akustischen Effekte der kreischenden Bremsen oder der harmonischen Geigenmusik. Wie wir im Rechenbeispiel sehen werden, beeinflusst nämlich die Eigenfrequenz des Feder-Masse-Systems die Periodizität der slip-stick-Bewegung. Die Paarung Federsteifigkeit n - Masse m muss nur so ausfallen, dass die Eigenfrequenz in den Hörbereich fällt.
 Weg- und Geschwindigkeitsdiagramm

Abb. Weg- und Geschwindigkeitsdiagramm

Für die Berechnung der Bewegungsabläufe greifen wir wieder auf das wohlbekannte Kräfte­gleich­gewicht zurück (). Obwohl eine äußere Kraft, nämlich die Zug/Druckkraft F, wirkt, setzen wir diese nicht direkt den anderen Kräften auf der rechten Seite der Gleichung gegenüber. Warum? Weil die Zugkraft indirekt über die Federkraft in das Kräftegleichgewicht eingeht. Denn die Differenz der Orte xZ - x abzüglich der Ruhefederlänge l0 ist proportional zur Federkraft und diese ist der Zugkraft genau gleich groß, aber dieser entgegen gerichtet.

()
Formel

Setzen wir die Kenngrößen für die einzelnen Kräfte in ein, so erhalten wir:

()
0 = m · x · · + F R + n · x Z x l 0

Division durch m führt auf die Normalform der Differentialgleichung:

()
0 = x · · + F R m + n m · x Z x l 0

Der Summand FR/m entspricht einer Be­schleuni­gungs­größe, hier allerdings einer verzögernden. Darum wird er auch als solche verwendet:

()
Formel

Erinnern wir uns, dass der Quotient n/m dem Quadrat der Eigenfrequenz ω0 entspricht, dann erhalten wir schließlich:

()
0 = m · x · · + b R + ω 0 2 · x Z x l 0

Bleibt nur noch die Bestimmung der Verzögerung bR. Sie wird aus dem Gleitreibungskoeffizienten μG multipliziert mit der Erdbeschleunigungskonstanten g gebildet. Und vergessen wir nicht, sie ist der Bewegung stets entgegen gerichtet! Also sind die folgenden Fälle zu unterscheiden:

()
Formel

Der Fall vx = 0 ist ebenfalls zu berücksichtigen, denn dann wirkt ja keine Gleit- sondern die Haftreibung!

Auch hier bietet die Lösung der Differentialgleichung keine Schwierigkeiten. Vielmehr liegt die Kunst in der richtigen Steuerung der Gleit­reibungs­kraft in Abhängigkeit der unter­schiedlichen Bewegungs­zustände. Darum sei hier der dem Programm­beispiel zugunde liegende Ablaufplan gezeigt:

PAP Slip-Stick

Abb. PAP Slip-Stick

Im Programmbeispiel wird das Feder-Masse-System an dem violetten Angriffspunkt am rechten Ende der Feder wahlweise manuell oder mit konstanter Geschwindigkeit gezogen bzw. gedrückt. Im oberen Fenster werden auf Wunsch die Geschwindigkeit (grün) bzw. der Ort (rot) der Masse angezeigt. Hier kann der slip-stick-Effekt in Abhängigkeit von der Eigenfrequenz f0, der Gleitreibungs- bzw. Haftreibungskonstanten μG und μH studiert werden.

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download p5.js
run program
Ergebnisdiskussion: In Abhängigkeit von der Eigenfrequenz ω0 verändert sich die Frequenz der slip-stick-Bewegung, aber nicht ausschließlich, sondern noch zusätzlich in Abhängigkeit vom Haftreibungskoeffizienten μH. Je größer μH, desto länger werden die Schwingungenszyklen, weil der stick-Vorgang dann länger dauert. Im Beispielprogramm setzt der stick-Effekt (im Diagramm daran zu erkennen, dass über gewisse Zeitabschnitte die Geschwindigkeit auf der Nulllinie verläuft) nicht immer ein. Das liegt an der rechentechnischen Ermittlung des Wertes vx = 0. Da wir unsere DGl. numerisch lösen, kann der Nulldurchgang nicht exakt ermittelt werden. Deshalb habe ich eine Schranke für die Geschwindigkeit eingeführt, unter der die Geschwindigkeit zu 0 erklärt wird. Diese Schranke ist natürlich willkürlich und wird nicht allen Anforderungen gerecht. Deshalb werden Änderungen der Parameter teilweise erst nach Richtungswechsel der Zug/Druck-Bewegung wirksam.

Es gibt aber auch Konstellationen, bei denen keine stick-Phase auftritt und die Masse der Zug/Druckbewegung trotzdem schwingend folgt. Diese Situation tritt auf, wenn die Zug/Druck­geschwindigkeit größer als die der Schwingung wird. Dann tritt ein Stillstand der Masse nicht mehr ein. Dass dennoch eine Schwingung, jetzt ohne stick-Effekt, auftritt, ist eine charakteristische Eigenheit, die auf die Unabhängigkeit der Reibkräfte von der Geschwindigkeit zurück zu führen ist.